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Der Tag, an dem ich meinen Halt verlor …

…war ein Donnerstag im Oktober. Im Fernsehen genoss ich die leichte Unterhaltung einer Natursendung und plötzlich bröckelte wieder eine Gewissheit in sich zusammen.

Es war wie mit der Rechtschreibung. In der Grundschule brachte man mir gewissenhaft bei, daß auf diese Art richtig geschrieben wird. Man erklärte mir nicht, dass eine Rechtschreibreform kommen kann, die das Gelernte ändert und jetzt etwas anderes richtig ist.

Wir brauchen Gewissheiten, wir suchen Halt.

In besagter Natursendung wurde über das Verhältnis einer Pflanze zu einem Tier/Fressfeind berichtet. Die Pflanze entwickelt im Laufe der Jahre Strategien, um sich gegen den Fressfeind zu wehren. Auf der anderen Seite ist das Tier, dass sich den neuen Umständen anpasst und die von der Pflanze entwickelten Hürden zu umgehen weiß, woraufhin die Pflanze wiederum … das nennt man Evolution und ist uns nichts Neues.

Aber diese Erkenntnis hat mich die Dinge mit anderen Augen sehen lassen. Das, was wir jetzt z.B. als „Rose“ kennen, wird in x Jahren nicht mehr die gleiche Pflanze sein wie jetzt. Sie wird sich weiterentwickelt haben. Je besser sie sich an verändernde Umstände anpassen kann, umso größer sind ihre Chancen zum Arterhalt. Das bedeutet, das Rose nicht gleich Rose sein wird, und unsere Definition von Rose nur für JETZT gilt.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose – ist eine Illusion, keine Gewissheit mehr!

Da begab ich mich auf die Suche nach Gewissheiten, nach Stabilität, nach Halt.

Das einzig Beständige ist die Veränderung. Ja klar, um Sprüche sollte man nicht verlegen sein. Trotzdem gerät der Boden unter mir ins Schwanken, wenn ich beim Berühren der mir vertrauten Eiche im Park die Erkenntnis gewinne, dass selbst dieser weit über 100-jährige Baum nur eine Momentaufnahme ist.

Es wundert mich nicht, dass ich gerade in diesen Zeiten der Ungewissheit solche Gedanken habe. Auch mich beeinflusst die Pandemie und ihre Auswirkungen. Aber –

Vielleicht ist die Suche nach Halt an sich schon der falsche Ansatz?

Was ist mit meinen sozialen Beziehungen? Ich weiß, dass Beziehungen ein elastisches Gebilde sind und nicht starr, sondern veränderlich. Kinder gehen aus dem Haus, Eltern sterben, Freundschaften sind mal eng und mal unverbindlich, und auch das feste Band zwischen Liebenden kann zerreißen. Nichts ist von Dauer. Ganz schön frustrierend!

Wir suchen Halt im Glauben. Ja – glauben – aber wir wissen es nicht. Glaube kann gefährlich sein, es kommt nicht von ungefähr, dass in Zeiten von Unsicherheit die Populisten so großen Zulauf haben, denn der Mensch möchte einfache Lösungen. Die Welt ist so komplex geworden.

Aber meine Erfahrungen, die sind doch von Dauer, die kann mir keiner mehr nehmen! Tja, auch Erinnerung ist formbar wie in wissenschaftlichen Experimenten nachgewiesen wurde.*

Vielleicht sollten wir lieber unsere Fähigkeit zur Flexibilität nähren.

Genauso verhält es sich ja auch mit sozialen Beziehungen, sie sind nicht starr, sondern veränderlich. Ich fühle mich eingebunden in ein Netz aus Menschen, mit denen ich Kontakt habe und den ich pflege. Eingebundensein, Verbundenheit, das gibt Halt. So wie ein fasziales Netz, so stelle ich mir das vor.

Verbinden ist auch der Sinn des Yoga. (sanskrit, von dem Wortstamm yug – anschirren, verbinden)

Yoga – Verbinden – damit wir uns nicht so verloren fühlen, nicht getrennt, denn im Yoga verbinden wir unseren Körper mit unserem Geist und unserer Seele.

Wie kann Yoga helfen?

Den äußeren Halt gebe ich mir selbst durch eine regelmäßige Yogapraxis. Ich erschaffe eine Struktur, ein festes Gefüge. Ein schönes Ritual ist auch, vor dem Schlafengehen in Dankbarkeit mit dem Tag Frieden zu schließen.

Und unabhängig von all dem Schönen und Wohltuenden, was im Yoga passiert (und ich nicht extra erwähnen muss), ist da das bewusste Wahrnehmen der Erdanziehungskraft. Die Gravitation, die Schwerkraft, ist die Urkraft im Universum und das Stabilste, was mir in den Sinn kommt. Das fühle ich in einem stabilen Sitz (auf dem Kissen), in den Asanas beim Verwurzeln, und besonders in der Endentspannung, in Savasana. Ich kann physisch spüren, wie der Boden mich trägt. Das gibt im wahrsten Sinne des Wortes Halt. Und Flexibilität übe ich, indem ich mich der Erdanziehungskraft hingebe. Auch daran halte ich nicht fest.

Den Halt in mir finde ich durch die Yogapraxis des Stillen Sitzens. Der Geist kommt zur Ruhe und sammelt sich an einem ruhigen, friedvollen Ort. (Verbinden) Hier schöpfe ich die Kraft, um wieder flexibel zu sein.

Das Verbinden auf spiritueller Ebene: (Glauben)

In den Upanishaden steht, dass wir im Schlaf zum Selbst zurückfinden und wir z.B. nicht den anderen lieben, sondern das Selbst im anderen. (soziale Beziehungen) Es geht um die Verbindung von jivatman (Individualseele) zu paramatman (Weltseele), nach der wir streben.

Ich weiß nicht, ob ich alle Antworten finden werde, aber ….

Halt finde ich nur im Moment, im Jetzt.
Halt verstehe ich nicht als Festhalten oder Anhalten, sondern als Innehalten (besinnen).
Wenn ich alte Gewissheiten loslasse, bin ich offen für Neues.
Die Gewissheit, dass ich mit allem zurechtkomme, was da kommen mag, das Vertrauen darauf, dass es nie zuuuuu schlimm wird, nennt man wohl Resilienz. (aus Erfahrung)

Und schließlich gebe ich die Suche nach Halt komplett auf, denn ich kann mich nicht festhalten an meinem Leben, irgendwann kommt sowieso das große Loslassen.

Vielleicht möchtest du hier weiterdenken und mir deine Erkenntnisse mitteilen?

Ganz herzlich, Monika

 

*https://www.spektrum.de/magazin/falsche-erinnerungen/823559